„Ich hebe das schon – geht schneller.“ Diesen Satz höre ich als Betriebsarzt im Lager oft, zwischen Regalen, Rollcontainern und Paletten. Genau hier beginnt die Spirale: ein Griff zu tief, eine Drehung zu schnell, ein Wagen, der sich schwerer schieben lässt als gedacht – und der Rücken meldet sich. Im Rahmen der betriebsärztlichen Betreuung spreche ich regelmäßig mit Mitarbeitenden in Logistik und Kommissionierung, die ihren Job mögen und trotzdem oftmals an körperliche Grenzen gehen. Sie berichten von Müdigkeit im unteren Rücken, Nackenverspannungen oder einem Ziehen bis in die Beine. Ihr Wunsch ist erstaunlich einheitlich: weniger Schmerz, mehr Energie – ohne dass die Leistung leidet.
Rückengesundheit hat wenig mit Heldentum zu tun, sondern mit vielen kleinen Entscheidungen. In der Kommissionierung sind es Greifhöhen, Distanzen, Drehbewegungen, die Häufigkeit der Lasten, die Bodenbeschaffenheit und kurze Erholmomente dazwischen. Auch leichte Teile belasten, wenn sie hundert- oder tausendfach gegriffen werden. Typische Situationen sind das wiederholte Heben aus unteren Regalebenen, das Verdrehen des Oberkörpers mit Handscanner, das Ziehen und Schieben von Wagen über Schwellen und Rampen oder das Absetzen von Kisten ohne nahe Ablagefläche. Rückenschmerz entsteht selten plötzlich – er ist das Resultat eines Arbeitstages, der immer wieder dieselben Stellen fordert.
Bevor ich Zahlen sammle, höre ich zu und schaue hin. Wo entstehen die „schweren Momente“ im Ablauf? Welche Wege sind zu lang, welche Griffhöhen ungünstig? Wo erzwingt die Umgebung das Verdrehen des Oberkörpers, weil Absetzflächen fehlen? Aus diesen Beobachtungen entwickle ich die Gefährdungsbeurteilung für manuelle Lasten. Ich begleite typische Schichten, dokumentiere Wege, Hubhöhen, Greifabstände, Lastgewichte und Häufigkeiten und nehme Störfaktoren wie enge Gänge, unebene Böden oder knapp geplante Packplätze auf. Wo es sinnvoll ist, ergänze ich Messungen – zu Wegstrecken, Taktzeiten und Hebehäufigkeiten –, damit wir das Erleben der Mitarbeitenden mit nachvollziehbaren Daten unterfüttern.
Für die strukturierte Bewertung nutze ich die Leitmerkmalmethode (LMM). Sie macht die Belastung bei Heben/Halten/Tragen sowie Ziehen/Schieben transparent. Gewicht, Häufigkeit, Haltung, Greif- und Absetzhöhe, Wegstrecke, Takt und Störfaktoren ergeben einen Punktwert – von „unauffällig“ bis „sofort handeln“. Mir ist wichtig, diese Zahl in Alltag zu übersetzen: Eine LMM-Bewertung allein verändert keinen Rücken, eine klare, umsetzbare Empfehlung schon. Darum leite ich direkt konkrete Schritte ab – für Layout, Hilfsmittel und Arbeitsorganisation.
In einem E-Commerce-Verteilzentrum klagte das Team über zunehmende Ermüdung im Lendenbereich, vor allem gegen Schichtende. Die Pickraten waren hoch, Hilfsmittel vorhanden – wurden im Alltag aber nicht konsequent genutzt, weil Wege weit waren und Absetzflächen fehlten. Gemeinsam mit den Mitarbeitenden sind wir die Route gegangen und haben die belastenden Momente festgehalten. Die anschließende Bewertung mit der Leitmerkmalmethode zeigte die höchsten Punktwerte beim Picken aus unteren Ebenen und beim Absetzen an zu tiefen Packplätzen. Danach haben wir drei Dinge umgesetzt: schwere, häufig gegriffene Artikel konsequent in den Greifraum zwischen Knie- und Brusthöhe verlagert; höhenverstellbare Palettenheber dorthin gestellt, wo am meisten gepickt wurde; und an den Packstationen körpernahe Ablagen geschaffen, damit Kisten nicht „in der Luft“ gehalten werden müssen. Nach wenigen Wochen berichteten die Teams von spürbarer Entlastung: weniger Ziehen im unteren Rücken, ruhigere Taktwechsel, bessere Konzentration in Stoßzeiten. Es waren keine spektakulären Umbauten – es war konsequent gelebte Ergonomie auf Basis einer klaren Bewertung.
Ergonomie bedeutet nicht langsamer, sondern klüger zu arbeiten. Wenn Lasten nah am Körper gegriffen werden, wenn Absetzflächen dort sind, wo sie gebraucht werden, wenn Wege frei und eben sind, braucht der Rücken weniger Kraft und die Hände arbeiten präziser. Hilfsmittel entfalten Wirkung, wenn sie selbstverständlich bereitstehen und zur Aufgabe passen: andere Lösungen fürs schnelle Kommissionieren als fürs Umlagern ganzer Kistenstapel, anderes Equipment für enge Gänge als für weite Flächen. Ebenso wichtig ist die Wagenkultur: Passen Rollen und Boden zusammen? Wird überwiegend geschoben statt gezogen? Sind Rampen und Schwellen entschärft? Und dann sind da Mikropausen – wenige Atemzüge, ein bewusster Haltungswechsel, eine kurze Mobilisation für Lenden- und Brustwirbelsäule. Diese Momente kosten kaum Zeit, geben aber Energie zurück. Aus „Ich mach das schnell allein“ wird „Wir stimmen uns ab und nutzen, was hilft“.
Nachhaltig wird Rückengesundheit, wenn alle am Tisch sitzen. Fachkräfte für Arbeitssicherheit sehen Wege, Flächen und Technik; Führungskräfte schaffen Priorität und Ressourcen; der Personalbereich unterstützt Schulungen und Beschaffung; die Beschäftigten bringen die Praxisperspektive ein. Meine Rolle ist die Übersetzung aus der betriebsärztlichen Perspektive: Beobachtungen, Messungen und das Erleben der Mitarbeitenden zusammenbringen, mit der Leitmerkmalmethode bewerten und daraus Empfehlungen formulieren, die im Alltag tragen – von der Regal-Umplatzierung über höhenverstellbare Arbeitsflächen bis zur Auswahl passender Wagen. Vertraulichkeit und Wertschätzung sind dabei nicht verhandelbar. Im Rahmen der betriebsärztlichen Betreuung gilt: Alles, was mir persönlich anvertraut wird, bleibt geschützt. Nur so sprechen Menschen offen über Beschwerden, bevor sie chronisch werden.
Handlungsbedarf zeigt sich oft, bevor jemand krankgeschrieben ist: leises Reiben im Lendenbereich, häufiges Strecken, Sätze wie „abends ist es schlimmer“. Solche Hinweise nehmen wir ernst und prüfen sie systematisch – bei Bedarf objektiviert durch die Leitmerkmalmethode. Ein Rückengurt kann in Einzelfällen an eine aufrechte Haltung erinnern, ersetzt aber weder gute Hebetechnik noch passende Hilfsmittel und stimmige Abläufe. Die größte Wirkung entsteht, wenn Technik, Organisation und Verhalten ineinandergreifen; die Leitmerkmalmethode hilft, die Prioritäten dafür klar zu benennen. Ändert sich etwas, folgt ein kurzer Check: bewerten, priorisieren, optimieren – damit Belastungen gar nicht erst größer werden.
Weniger Rückenschmerz bedeutet nicht nur weniger Ausfalltage. Es bedeutet ruhigere Abläufe, präziseres Arbeiten, bessere Pickqualität – und Teams, die mit mehr Energie nach Hause gehen. Das spürt man im gesamten Materialfluss. Ergonomie ist damit kein „Nice to have“, sondern gute Organisation. Sie zeigt, dass Gesundheit und Leistung zusammengehören. Die Leitmerkmalmethode hilft, genau dort anzusetzen, wo die größte Wirkung zu erwarten ist – nachvollziehbar für alle Beteiligten.
Wenn Sie möchten, dass Ihr Lager mit weniger Heben, klügerem Tragen und mehr Energie durch den Tag kommt, begleite ich Sie gern als Betriebsarzt.
Wir Betriebsärztinnen und Betriebsärzte bei der Gany.MED analysieren Ihre Arbeitsplätze im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung, beziehen das Erleben der Beschäftigten ein und bewerten die Lastenhandhabung bei Bedarf strukturiert mit der Leitmerkmalmethode. Daraus entstehen praxisnahe Lösungen, die im Alltag spürbar entlasten – von der Kommissionierung über das Packen bis zum Warenausgang. Kontaktieren Sie uns jetzt und vereinbaren Sie gerne einen ersten Beratungstermin – wir prüfen gezielt, setzen klare Prioritäten und schaffen wirksame Entlastungen für Ihr Team.